Sadeq Hedayat: Die blinde Eule
Schatten an der Wand
Schon früh skizziert er das zentrale Bildmotiv, hier zitiert aus der Übersetzung Bahman Nirumands, wie auch sonst, wenn nicht anders angemerkt: "Ich malte eine Zypresse, immer dieselbe Zypresse, darunter einen buckligen alten Mann, der einem indischen Yogi glich, eingehüllt in einen weiten Umhang, einen Schal um den Kopf gebunden. Er hockte auf dem Boden und hielt mit einem Ausdruck des Erstaunens den Zeigefinger seiner linken Hand an die Lippen. Ihm gegenüber stand ein Mädchen mit einem langen, schwarzen Kleid; es beugte sich vor, um dem Alten eine Windenblüte zu reichen. Denn zwischen ihnen floss ein schmaler Bach."
Gekürzt und leicht gewandelt tauchen Teile dieses Bildes immer wieder im Bericht des namenlosen Ich-Erzählers auf. Mal entdeckt er die Zypresse mit dem Mädchen und dem Mann jenseits einer Wand durch eine Luke, die kurz darauf verschwunden ist, mal lässt er jenes Mädchen in sein Zimmer, wo er sie als Tote malt. Er findet ihr Gesicht auf einer Emaillevase aus dem alten Rey (Rhages) und sieht nachfolgend auch nahe jener Stadt eine Zypresse und ein Mädchen in einem schwarzen Kleid. Er erinnert sich, dass seine spätere Frau als Kind ebenfalls ein solches Kleid beim Spielen neben einem Bach und einer Zypresse trug, und als sich der kleine Bruder seiner Frau den linken Zeigefinger auf die Lippen hält, küsst der Erzähler diesen Jungen, der teils dem Vater, aber noch stärker seiner Schwester ähnelt, auf den Mund. Seine Frau zeigt als Erwachsene mitunter Züge jenes Mädchens und an einer Stelle assoziiert er mit ihm auch seine Mutter Bugam Dasi, die einst in einem Tempel tanzte.
Noch bemerkenswerter sind die Wandlungen des alten Mannes, der schon draußen vor der Luke akustisch in Erscheinung tritt, mit einem Gelächter "so trocken und widerlich, dass mir die Haare zu Berge standen [...] wie das Echo eines Gelächters aus einem hohlen Raum". Zweimal tritt er als Leichenwagenfahrer in Erscheinung, mehrmals als Trödler vor einem Haus der Nachbarschaft, gleichfalls wiederholt als Vater seiner Frau, einmal ohne jenes Lachen und daher nur angedeutet als Familienarzt, später als Lachen hinter einer Tür oder als der Erzähler selbst, Fratzen schneidend vor dem Spiegel mit eben jenem Lachen. Zunächst erscheint es dem Erzähler, dass die Figuren als Spiegelbilder in ihm leben, doch gegen Ende hält er sie für seine Schatten und er geht noch weiter: "Ich sah aus wie – nein, ich war
der alte Trödler."
Was im Rausch, im Traum, im Albtraum oder ganz real gesehen wird, lässt sich nicht immer unterscheiden. Besonders gelungen ist eine Erwähnung jenes Bildmotivs im zweiten Teil, wo der Erzähler schreibt: "Mein Leben kommt mir so unnatürlich, so unerklärlich, so unglaublich vor wie die Zeichnung auf dem Federkasten, den ich gerade benutze. Vermutlich hat ein launischer Irrer diesen Federkasten bemalt. Wenn ich mir dieses Bild ansehe, kommt es mir immer wieder bekannt vor. Vielleicht ist es eben dieses Motiv, das mich zum Schreiben zwingt." Worauf eine Beschreibung der uns bereits vertrauten Zeichnung folgt.
Opium hat dem Leib des Erzählers "die Seele der Pflanzen und ihre kaum wahrnehmbaren Bewegungen eingehaucht", was seine passive Haltung erklären mag. Bekanntermaßen wirkt Schlafmohnsaft bewusstseinsverändernd und wurde in der Psychiatrie bis in die 1960er zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Die blinde Eule
wurde 1936 als Privatdruck veröffentlicht. Als realer Hintergrund des Albtraumhaften sind aus religiösen Traditionen resultierende Pflichten und Heuchelei erkennbar, und die Zeit der Rahmenhandlung könnte die damalige Gegenwart sein. Gleich am Anfang wird der Wunsch nach Vergessen als Thema angeschlagen. Rauschartige Bilder prägen die Geschichte, unterbrochen von einem – sofern man dem Erzähler glaubt – realer anmutenden Abschnitt mit Lebenserinnerungen, bis er das Haus verlässt, durch ein irreale Landschaft geht und sich an die Zeit der alten Stadt Rey erinnert fühlt.
Zum Saft des Schlafmohns passt der stets präsente Tod und zu diesem wiederum die Eule, die als Totenvogel gilt und deren Form am Ende vom Schatten des Erzählers angenommen wird. Viele seiner Bilder beeindrucken durch ihre Vielschichtigkeit, wenngleich sie je nach Übersetzung variieren können. So reicht im zentralen, offenbar aus Indien stammenden Bildmotiv das Mädchen jenem alten Mann in der Übersetzung Gerd Hennigers eine Winde und in der Bahman Nirumands eine Windenblüte, während in Iraj Bashiris Übersetzung ins Englische von "a lily", einer Lilie die Rede ist und im persischen Original dort نیلوفر steht, was mein Wörterbuch mit Lotus oder etwas Lotusähnlichem übersetzt. Die Symbolik von Windenblüte, Lilie und dem in Indien heiligen Lotos unterscheidet sich naturgemäß. Als wichtigstes Pflanzensymbol im Buddhismus versinnbildlicht Lotos den Weg zur Erleuchtung; trotz der Welt des Sumpfes, aus der er sich erhebt, gedeiht er zu einer Schönheit, die alles von sich abperlen lässt. Eine diesem ikonografisch verwandte Verwendung erfährt in westlichen Kulturen die Lilie, wo sie Reinheit und Jungfräulichkeit verkörpert, wohingegen die Windenblüte für vergängliche Schönheit steht. Die Zypresse, allgemein als Symbol der Unsterblichkeit bekannt, ist den Anhängern Zarathustras wegen ihrer flammenähnlichen Form heilig und Hedayat besuchte 1936 eine zoroastrische Gemeinde, wo er Mittelpersisch lernte.
Ähnlich wie mit klassischen Bildmotiven geht er mit jüngeren Literaturzitaten um, wie dem wiederholten hohlräumigen Gelächter des alten Mannes: "ein heftiges, unheimliches Lachen, das einem die Haare zu Berge steigen ließ" (diesmal in der Übersetzung Hennigers), das wie anderes an Poe erinnert. Im Detail umfassender bedient er sich bei Rilke, etwa wenn er den Erzähler seine Wände so beschreiben lässt wie Rilke Malte Laurids Brigge die an Nachbarhäusern verbliebenen Wände abgerissener Behausungen: "Der Stahlnagel im Mauerwerk hat meine Hängematte und die meiner Frau getragen, vielleicht später auch das Gewicht anderer Kinder. Etwas weiter unten ist der Gips abgeblättert, und auf dem bloßgelegten Mauerstreifen spüre ich den Geruch von Dingen und Wesen, die vor langer Zeit hier waren. Keinem Luftzug ist es bisher gelungen, diesen hartnäckigen, schweren, lastenden Geruch zu vertreiben. Geruch von Schweiß, von alten Krankheiten, Gerüche von Atem, von Füßen, von Harn, von ranziger Butter, verfaulten Strohmatten, verbrannter Rührkacke, Gerüche aus dem Zimmer eines gerade erwachsenen Knaben, Ausdünstungen von der Straße", so Hedayat in der Übersetzung Hennigers, während zuvor Rilke schrieb: "Am unvergesslichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren [...] es schwankte in den abgerissenen Fetzen, und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit entstanden waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden [...] stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stickige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus dem Abgrund der Gasse".
Auch die Betrachtungen Brigges über Vielzahl, Verschleiß und Wechsel von Gesichtern greift er auf. Bei Rilke steht auf der dritten Seite: "Es gibt eine Menge Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute [...] Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. [...] Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. [...] Sie sind nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das Nichtgesicht, und sie gehen damit herum." Und bei Hedayat: "Denn alles geschieht, als habe jedes Individuum mehrere Masken. Manche verwenden immer die gleiche: notwendigerweise wird sie schmutzig und vergilbt. Das sind die Sparsamen. Andere bewahren die ihrigen für ihre Nachkommen auf, wieder andere wechseln sie ständig, doch wenn das Alter vor der Tür steht, begreifen sie, dass sie bei der letzten angelangt sind und dass diese schnell verfällt: nun kommt ihr wahres Gesicht zum Vorschein."
In der dritten Parallele geht es jeweils um Ängste. Rilke ließ Brigge schreiben: "Ich liege in meinem Bett [...] Die Angst, dass ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, dass dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf, groß und schwer; die Angst, dass dieses Krümchen Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und zerschlagen unten ankommen würde". Und bei Hedayat: "Wenn ich in meinem feuchten, nach Schweiß riechendem Bett lag [...] wachten [...] alle vergessenen Ängste von neuem in mir auf; Angst davor, dass sich die Federn meines Kopfkissens in Dolchklingen verwandelten; dass die Knöpfe meiner Jacke so groß würden wie Mühlräder; dass das Brot wie Glas zerbrechen würde".
Ähnlichkeiten wie diese wurden im Gefolge zunehmender Rezeption nach Hedayats Suizid bekannt, und im Gegensatz zu anderen Bezügen lässt das von Rilke Übernommene während der Lektüre eher an Plagiate als an Intertextuelles denken, was den Gesamteindruck entsprechend schmälert. Gleichwohl sind die zitierten Passagen aus dem Werk Rilkes zu bekannt und von Hedayat zu wenig umgestaltet, um unlautere Absichten zu vermuten. Als Hommage wirkt es jedoch zu wunderlich. Gab Hedayat sich gerne ungeniert?
Daneben schimmern etliche Bezüge zu weiteren Werken, Theorien und Kunstrichtungen auf eine Weise durch, dass das Entdecken Freude macht. Andere vom Erzähler verwendete Stilmittel sind Vergleiche, Personifikationen und Übertreibungen. Wiederholungen von Szenen und Motiven sorgen für Musikalität, zu der – wo dies geschieht, als wäre das zuvor Erwähnte längst vergessen – das Gefühl einer Entrückung kommt.
Von den drei bislang in deutschsprachigen Verlagen erschienen Übersetzungen erfolgten die von Henniger (1962) aus dem Französischen und die von Moayyed/Hegel/Riemerschmidt (1960) sowie die von Nirumand (1990) aus dem persischen Original. Empfehlenswert ist die 1990 bei Eichborn in der Anderen Bibliothek
erschienene Ausgabe, die neben wahrscheinlich größerer Genauigkeit – beispielsweise wird hier der von Henniger verschwiegene Name der Mutter erwähnt – und ästhetisch anspruchsvoller Gestaltung als Beigabe zum Kurzroman neun zusätzliche Prosatexte Hedayats enthält.